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Faszination Intelligenz: Gedächtnis

27.09.2024
Wer hat sich nicht schon einmal über sein schlechtes Gedächtnis geärgert? Wir können uns Gesichter oder Namen nicht immer merken, wir vergessen die Butter beim Einkaufen, oder den Grund warum wir gerade in die Küche gegangen sind. Wie schön wäre es, wenn wir etwas wie ein Festplatte im Kopf hätten, die nichts vergisst! Aber würde uns das wirklich helfen?

Wenn man an das Gedächtnis denkt, hat man meist eine Art Regal- oder Bibliotheksmodell vor Augen: Informationen werden in einem standardisierten Format (z.B. in Form eines Buches) festgehalten und an einer bestimmten Stelle abgelegt, also auf einem bestimmten Regalplatz in der Bibliothek. Wenn man diese Information wieder benötigt, muss man den Platz des Buches wiederfinden und kann die Information nutzen.

Nach diesem Modell funktioniert der Speicher in einem Computer: Daten werden in Form von Dateien erfasst und auf einem physischen Speichermedium an einer bestimmten Stelle abgelegt. Die Koordinaten dieses Platzes werden im Betriebssystem festgehalten in Form eines Pfades im Dateisystem und dem Namen der Datei.

Aber funktioniert das menschliche Gedächtnis auch so?

Speicherhierarchien

In einem Punkt sind sich Gedächtnis und Speicher im Computer recht ähnlich: es gibt verschiedene Speicherarten, die sich durch Kapazität und Zugriffsgeschwindigkeit unterscheiden. Dabei gilt: je schneller zugreifbar, desto geringer die Kapazität. Im Computer gibt es zum Beispiel

  • Cache des Prozessors: Im Prozessor braucht man prinizipiell nur zwei Regalplätze (d.h. Bytes oder heutzutage 64-bit-Blöcke), um Befehle ausführen zu können. Zusätzlich gibt es ein paar mehr Regalplätze, um Zwischenergebnisse vorhalten zu können ohne sie jedes Mal aus dem Hauptspeicher holen zu müssen. Dieser Speicher ist extrem schnell, weil er eben schon direkt im Prozessor liegt und damit entsprechend teuer und daher extrem begrenzt.
  • Hauptspeicher (oder Arbeitsspeicher): Hier liegen üblicherweise alle Daten, die für die Ausführung eines Programms relevant sind, oft auch für mehrere laufende Programme parallel. Aber auch dieser Speicherplatz ist begrenzt. Sollte ein Programm sehr viele Daten benötigen, kann es vorkommen, dass Daten auf anderen Speichermedien, z.B. einer Festplatte, ausgelagert werden, um bei Bedarf zurück in den Hauptspeicher geladen zu werden. Die Programme werden dann deutlich langsamer. Früher konnte man dieses Swappingauch am Geräusch der Festplatte erkennen.
  • Persistente Speicher: Der Hauptspeicher wird mit dem Ausschalten des Computers gelöscht. Für die längerfristige Speicherung sind also Geräte wie Festplatten oder auch Magnetbänder notwendig. Auch hier gilt typischerweise: je größer, desto langsamer. Eine SSD-Festplatte ist schneller als eine klassische magnetische Festplatte. Daher kann man für das gleiche Geld mehr Magnetspeicher bekommen als SSD-Speicher.

Der allgemeine Wissensstand zum menschlichen Gedächtnis wirkt erst einmal recht ähnlich. Man geht von einem Kurzzeitgedächtnis aus, das die Informationen für die aktuelle Situation oder Aktivitäten bereithält, während das Langzeitgedächtnis viel mehr Informationen enhält, dafür auch länger braucht, um diese herauszukramen. Trotzdem darf man die Funktionsweisen nicht denen eines Computers verwechseln. Ein Kurzzeitgedächtnis ist deutlich kleiner als ein Hauptspeicher. Und da geht dann auch schon das Rätsel los: man weiß noch nicht einmal wie groß es genau ist. Miller ermittelte 1956 The Magical Number Seven, Plus or Minus Two [1]. Neurowissenschaftler haben mir gesagt, dass man eher vom unteren Ende ausgeht, also 5–7 Informationseinheiten. Es wirkt jedoch auch so, dass unser Gehirn das Kurzzeitgedächtnis unter normalen Umständen nicht voll ausschöpft, sodass es sein kann, dass in Notsituationen auch mal mehr reinpasst.

Interessant ist dann auch die Frage, was diese Informationseinheiten eigentlich sind. Das kommt nämlich nicht nur auf die Art der Information an, sondern auch auf die Erfahrung der Person. De Groot führte in den 60er Jahren spannende Experimente zum Schachspielen durch. Dabei wurde einer Versuchsperson ein Schachbrett mit Figuren für eine kurze Zeit gezeigt und danach sollte die Person die Figuren aus dem Gedächtnis an die vorher gezeigten Plätze stellen. Erfahrene Schachspieler konnten eine gezeigte Situation aus einem realen Schachspiel deutlich besser reproduzieren als Nicht-Schachspieler. Waren die Figuren jedoch zufällig aufgestellt, also nicht wie in einer echten Schachpartie, hatten die Schachspieler keinen Vorteil mehr. Für einen Laien ist also eine Informationseinheit etwas wie ein weißer Turm stand auf Feld E5, während für eine Schachspielerin eine Informationseinheit eher eine strategische Gesamtposition des Spielfeldes ist. Dieser Vorgang wird als chunking bezeichnet, als Bündelung von Informationen. Somit kann man durch Erfahrung in einem Gebiet die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses quasi erweitern, indem die einzelnen Informationsblöcke mehr Information enthalten.

Darüber hinaus gibt es noch viele weitere Rätsel zum menschlichen Gedächtnis. Beispielsweise wird das Kurzzeitgedächtnis auch als Arbeitsgedächtnis verstanden und dann in verschiedene Blöcke für verschiedene Arten von Informationen unterteilt. Eine Sache ist jedoch klar: die Informationen im Kurzzeitgedächtnis werden schnell wieder vergessen, deutlich schneller als im Arbeitsspeicher eines Computers. Es gibt zum Beispiel den Türschwelleneffekt, der besagt, dass man beim Durchschreiten einer Tür Dinge vergisst, wenn man sich nicht bewusst darauf konzentriert. Das Gehirn interpretiert den neuen Raum quasi als neue Episode und macht dabei gleich mal Platz für neue Informationen, die in diesem neuen Kontext benötigt werden.

Was wird gespeichert?

Wir haben schon beim Kurzzeitgedächtnis gesehen, dass es gar nicht so einfach ist, die gespeicherte Information zu charakterisieren. Denn eine Information hat nur dann Wert, wenn sie auch interpretiert werden kann. Selbst im Computer helfen uns die Folgen aus Nullen und Einsen erstmal nicht weiter. Sie werden dann interessant, wenn sie von spezifischen Programmen interpretiert werden, zum Beispiel als Text, als Bild oder als Video. Dieselbe Datei kann sogar unterschiedlich interpretiert werden, je nachdem mit welchem Programm man sie öffnet.

Ebenso sind die Informationen im Gehirn nur verwertbar im Kontext anderer Informationen und der wahrgenommenen Situation. Typischerweise unterscheidet man prozedurales und deklaratives Wissen. Ersteres beinhaltet Abläufe, beispielsweise Zähneputzen, während letzteres grob als Faktenwissen bezeichnet werden könnte. Aber natürlich spielen diese Wissensarten zusammen. Wenn man z.B. einen platten Reifen am Fahrrad reparieren will, muss man zunächst wissen, dass ein Fahrrad nur gut fährt, wenn Luft im Reifen ist und dass diese Luft entweicht, wenn ein Loch im Reifen ist. Das ist nicht unbedingt nur deklaratives Wissen, sondern auch eine Art Inferenz, also eine Überlegung von Ursachen zu Wirkungen. Um überhaupt etwas mit dem Rad machen zu können, müssen wir es abmontieren. Das ist prozedurales Wissen, aber was muss man dazu genau wissen? Wie man die Hand jeweils genau ansetzt? Wie man einen Schraubenschlüssel bedient? Im Computer würde man von Unterprogrammen oder Aktionen sprechen. Aber was genau ist die Aktion? Wo fängt sie an und wo hört sie auf?

Und wo kommt das Wissen überhaupt her bzw. wie wird entschieden, ob es gespeichert wird? Im Computer können wir eine Datei bewusst abspeichern oder ein Programm tut das automatisch im Hintergrund. Was da genau gespeichert wird, wird beim Programmieren festgelegt. Ein Mensch hat sich also irgendwann einmal überlegt, welche Daten benötigt werden, damit zu einem späteren Zeitpunkt dieselbe Information wieder angezeigt wird, wenn die Datei im passenden Programm geladen wird.

Aber woher weiß das Gehirn, was es speichern soll? Wenn es jede Sensorinformation abspeichern würde, wäre es nicht nur schnell voll, es wäre auch immer schwieriger, eine passende Information im richtigen Moment wiederzufinden. Deshalb ist es für uns kaum möglich uns daran zu erinnern wie die Temperatur beim Zähneputzen heute morgen war. Außer sie war ungewöhnlich, also wenn wir extrem gefroren oder geschwitzt haben. Denn dann ist es etwas ungewöhnliches und das könnte dazu führen, dass die Information eben doch gespeichert wird.

Und wir erinnern uns nicht nur an Wahrnehmungen, sondern auch an komplexe Ereignisse (auch eine Art Chunking) und an Gedankengänge. Wenn wir über ein Thema nachgrübeln (z.B. darüber wie unser Gedächtnis funktioniert), dann ändern wir bereits gespeicherte Informationen und fügen neue hinzu.

Vorgänge im Gedächtnis

Wir haben bisher von Speichern gesprochen, als einen Vorgang der im Gedächtnis irgendwie passiert. Aber was heißt das genau? Und was passiert sonst noch mit unseren Gedanken?

Fangen wir wieder mit dem Computer als einfachem Fall an. Für Daten unterscheidet man zwischen zwei Operationen: Lesen und Schreiben. Das spiegelt sich auch normalerweise auch in Berechtigungen wider. Ich könnte als Mitarbeiterin vielleicht berechtigt sein, die Adressen im Adressbuch meines Unternehmens anzusehen, also zu lesen, aber nicht diese zu ändern, d.h. zu schreiben. Diese beiden Vorgänge sind komplett unabhängig: man liest Daten aus ohne sie zu verändern, beim Schreiben muss man die vorhandenen Daten nicht notwendigerweise vorher lesen (z.B. wenn man sie nur löscht). Klingt banal? Dann schauen wir mal wie es im Gehirn abläuft.

Hier ist ist Lage nämlich anders. Man kann sich vorstellen, dass man Informationen im Gehirn in Form von Erinnerungen abruft, was in etwa der Leseoperation beim Computer entspricht. Der Clou ist aber, dass man im Grunde keine Information abrufen kann ohne sie gleichzeitig zu verändern [2]. Je mehr wir über ein Erlebnis spechen oder nachdenken, desto mehr kann es sein, dass wir unsere Erinnerungen verfälschen, und zwar zum Guten wie zum Schlechten. Einerseits können wir uns damit helfen traumatische Ereignisse zu verarbeiten, wir können uns aber auch in Phantasien hineinsteigern und diese durch unsere selbstgefälschten Erinnerungen untermauern. Sogar von außen sind Änderungen von Erinnerungen möglich, was insbesondere für Zeugenaussagen in Gerichtsprozessen problematisch ist [3].

Und genauso geht es anders herum: Wenn wir eine Erinnerung verändern, wird diese auch wieder aktiv werden. Wenn wir zum Beispiel eine Enttäuschung erlebt haben – eine Person, der wir vertraut haben, hat uns hintergangen – dann wird unser Gehirn bestimmte Erlebnisse und Glaubenssätze neu interpretieren müssen (hätte ich ihr damals mein Geheimnis besser nicht verraten). Bei weniger einschneidenden Ereignissen, passiert das unbewusst, auch im Schlaf. Bei größeren Veränderungen wird uns die Arbeitsleistung unseres Gehirns oft bewusst, indem wir über die Sache nachgrübeln und Erinnerungen wieder hochkommen (s.a. Youtube-Video Keine Angst vor Veränderung).

Wir rufen Informationen aber nicht nur ab, wenn wir sie neu schreiben, sondern natürlich auch, um sie zu nutzen. Nur woher weiß das Gehirn, welche Informationen gerade relevant sind und wo sie abgespeichert sind? Selbst wenn es so etwas wir ein Dateisystem hätte: in welcher Datei steht die Information, wie ich einen Reifen von einem Fahrrad abschraube? Der Computer hat es hier wieder einfach: er muss das nicht selbst entscheiden, das tun Menschen, entweder ein Nutzer entscheidet sich eine Datei zu öffnen, oder eine Entwicklerin hat einprogrammiert, wo die relevanten Daten liegen.

Um Informationen wiederzufinden, werden sie im Gehirn vernetzt, man nennt das auch Assoziation. Nur wie das genau funktioniert, ist immer noch ein großes Rätsel. Informationen, die irgendwie zusammen gehören, zum Beispiel weil sie in der gleichen Situation erlebt wurden oder zum gleichen Thema passen, sind verknüpft und können sich gegenseitig aktivieren. Wenn uns also ein bestimmter Begriff nicht einfällt, kann es helfen an eine Situation zu denken, wo wir dieses Wort üblicherweise nutzen oder ähnliche Begriffe abzurufen um sich an das gesuchte Wort heranzutasten.

Und natürlich ändern sich diese Verknüpfungen ständig und können auch mal ganz verschwinden. Ob Vergessen nur damit zusammenhängt, dass quasi der Weg zur Information verloren geht, oder die Information an sich nicht mehr vorhanden ist, ist nicht klar. Was jedoch klar ist: Aufräumen ist ein notwendiger Bestandteil des Systems Gehirn. Nur durch die ständige Neuorganisation können wir dazulernen, Erlebnisse verarbeiten und uns weiterentwickeln. Dass dabei auch mal Informationen entrümpelt werden, kann zwar nerven (jetzt habe ich den Namen schon wieder vergessen), ist aber notwendig. Und nicht nur um Platz zu schaffen für neue Informationen, sondern auch um einen effizienten Zugriff auf die vorhandenen Informationen zu gewährleisten. Je mehr Kisten im Dachboden stehen, desto länger dauert es jede aufzumachen und nachzusehen was drin ist.

Mensch oder Computer?

Könnten wir uns doch alles so gut merken wie ein Computer! Na ja, streng genommen merkt sich der Computer überhaupt nichts. Welche Daten in welchem Format gespeichert werden, müssen sich Menschen ausdenken, die die Programme für die Computer schreiben. Von allein speichert ein Computer nichts ab, denn ein Computer ist keine Erinnerungsmaschine, sondern eine Rechenmaschine. Und da man beim Rechnen auch mal Zwischenergebnisse braucht, haben Computer praktischerweise verschiedene Speicher, die man auch für langfristige Datenaufbewahrung nutzen kann.

Aber der Vergleich zwischen den Speicherfähigkeiten des Gehirns und unseren Rechenmaschinen ist unfair: das Gehirn muss viel mehr leisten als vordefinierte Datenpunkte an bestimmten Speicherorten abzulegen und von dort wieder abzurufen. Das Gehirn muss die richtigen Daten zum richtigen Zeitpunkt hervorholen und mit aktuellen Wahrnehmungen und Handlungsoptionen in Einklang bringen. Beim Programmieren erledigen Menschen diese Arbeit, indem sie Datenformate definieren, die mit den Abläufen in einem Programm zusammenpassen. Wenn man sich das genau überlegt, sollte es auch nicht mehr verwundern, dass Software-Entwicklung ein teurer, langwieriger Prozess ist, der nie ganz endet. Die Anforderungen und Erwartungen entwickeln sich ständig weiter, und damit muss auch das Zusammenspiel von Datenformat und Programmfunktionalität immer neu definiert, programmiert und getestet werden.

Aber könnten wir nicht auch Computer dazu bringen, Daten selbst zu organisieren und abzulegen, hat die Künstliche-Intelligenz-Forschung nichts dazu? Man hat sich tatsächlich in der klassischen KI auch mit dem Problem des Gedächtnisses und dem Zugriff auf Informationen beschäftigt. Dies ist vor allem im Kontext von Kognitiven Architekturen passiert. Die Idee dieser Forschungsrichtung ist, eine Art allgemeines Betriebssystem für intelligentes Verhalten zu erschaffen, und irgendwie ist das ja auch die Kernidee der Künstlichen Intelligenz: allgemeine Mechanismen ergründen, die möglichst vielseitige Formen der Intelligenz zeigen.

Bei dieser Forschung hat sich wie immer gezeigt, dass es nicht einfach ist die Natur auch nur ansatzweise nachzubilden. Typischerweise werden verschiedene Formen von Wissensrepräsentation in verschiedene Speicherarten unterteilt (die z.B. die Unterscheidung von prozeduralem und deklarativem Wissen nachbilden) und man verwendet eine einfach Form der Mustererkennung, um relevante Daten zu einer Situation abzurufen. Diese Mustererkennung hat jedoch nicht viel mit den flexiblen, größtenteils unverstandenen, Mechanismen im Gehirn zu tun. Daher muss man leider sagen, dass diese Ansätze bestenfalls im Spielzeugstadium stecken und aktuell wird diese Forschungsrichtung nur sehr eingeschränkt weiterverfolgt.

Wir tappen oft in die Falle, Fähigkeiten von Maschinen zu beneiden. Dabei vergessen wir aber, dass diese Maschinen sehr spezifisch für ihre jeweilige Aufgabe gebaut sind, während wir als lebende Wesen mit allen möglichen Situationen in einer komplexen, unsicheren und sich ändernden Umwelt zurecht kommen müssen. Natürlich kann ein Staubsauger Dreck besser zusammensammeln als wir das mit unseren Händen könnten, natürlich kann eine Bohrmaschine ein präzises Loch bohren, und natürlich kann eine Rechenmaschine mit Speicher Zahlen zuverlässig abspeichern. Genau dafür haben wir uns diese Maschinen gebaut!

Aber allein der Umstand, dass wir in der Lage sind solche Maschinen zu ersinnen und zu bauen, sollte uns zeigen, dass unsere geistigen Leistungen gar nicht so schlecht sein können. Also wenn du dich das nächste Mal ärgerst, dass du etwas vergessen hast: das ist kein Fehler, sondern ein notwendiger Nebeneffekt von Intelligenz.

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