Alex Kirsch
Independent Scientist
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Forschung vs. Wissenschaft

13.01.2018
Sind Forschung und Wissenschaft das gleiche? Betrachtet man die Begriffe genauer, erhält man eine neue Sicht auf die Probleme im aktuellen Wissenschaftssystem. Auch Vorurteile, dass Wissenschaft abgehobene, unnütze Theorien hervorbringe, lösen sich dabei auf.

Mit meinem Entschluss mich selbständig zu machen kam die Frage nach meiner neuen Berufsbezeichnung auf. „Independent Scientist“ in Anlehnung an andere freie Berufe wie Journalisten gefiel mir. Aber heißt es eigentlich „Scientist“ oder „Researcher“?

Ein wenig Internetrecherche [1] [2] bringt folgende Unterscheidung hervor: „Research“ ist das Durchführen von Forschungsarbeiten. Im Hinblick auf ein Ziel oder eine Forschungsfrage wendet man fachspezifische Methoden an (z.B. Experimente oder Literaturrecherche). Am Ende steht eine möglichst objektiv nachvollziehbare Lösung der Aufgabenstellung. „Science“ geht darüber hinaus, indem Forschungsergebnisse zu abstrakten Modellen und Theorien verallgemeinert werden. Somit ist „Research“ ein Teilschritt von „Science“.

Im Deutschen scheint die Unterscheidung weit weniger stark ausgeprägt zu sein [3]. Ich glaube aber, die Unterscheidung im Englischen lässt sich auch gut im Deutschen anwenden. In Unternehmen gibt es Forschungs- und Entwicklungsabteilungen, aber keine Wissenschaftsabteilungen. Daher könnte man auch hier Forschung als projektbasierte Tätigkeit auffassen, während Wissenschaft eine weitere Abstraktion sucht.

Kürzlich habe ich das wissenschaftliche System mit seinem Versuch wissenschaftliche Leistung zu quantifizieren dafür verantwortlich gemacht, dass in der Künstlichen Intelligenz in den letzten Jahrzehnten kaum Fortschritte an grundlegenden Fragen erzielt wurden [4]. Wenn ich jetzt über die Unterscheidung von Wissenschaft und Forschung nachdenke, ist das Problem weniger, dass Wissenschaft falsch betrieben wird, sondern dass an Universitäten nur noch geforscht wird, ohne den Schritt der wissenschaftlichen Verallgemeinerung. Das zeigt sich schon an der Finanzierung, die immer mehr auf Projekten beruht, die einzeln beantragt werden. Auch die Bewertungsmaßstäbe zielen rein auf Forschung ab: die Länge der Publikationsliste und die Höhe der eingeworbenen Drittmittel sind die Indikatoren für gute „Wissenschaft“ (also eigentlich Forschung). Diese Kennzahlen eignen sich noch nicht einmal zur Bewertung von Forschung, denn auch hier kann man ordentlich oder schlampig arbeiten, einfache oder schwere Fragen stellen usw. Der wissenschaftliche Aspekt, der über Forschung hinausgeht, wird bei Berufungsverfahren noch nicht einmal als Kriterium gelistet.

Daher ist die Frage vielleicht nicht „Was stimmt nicht an der Wissenschaft?“, sondern eher „Will sich unsere Gesellschaft Wissenschaft leisten oder kommen wir mit Forschung aus?“. Die Realität gibt eine klare Antwort: An Universitäten wird man nicht für Wissenschaft bezahlt, sondern für Forschung.

Um dies zu rechtfertigen, könnte man das Argument der Praxisnähe anbringen. Da Forschung auch in Unternehmen betrieben wird, wird der Begriff automatisch mit dem Lösen praktischer Probleme assoziiert, während Wissenschaft eher mit realitätsfernen, abgehobenen Konzepten in Verbindung gebracht wird. Meine Unterscheidung oben sagt allerdings überhaupt nichts über die Anwendbarkeit von Forschung oder Wissenschaft aus. Das Erarbeiten einer Theorie oder eine allgemeinen Modells bedeutet nicht, dass man sich damit von der Realität abwendet. Ich finde Wissenschaft sollte Probleme angehen, die auch tatsächlich vorhanden sind. Der Ruf der Realitätsferne in der Wissenschaft kommt wohl eher daher, dass die Forschung in Universitäten keine nachvollziehbaren Ziele verfolgt. Während Forschung in der Wirtschaft auf das Erschaffen von Produktion, Prozessen oder Dienstleistungen abzielt, sollte die Forschung an Universitäten durch wissenschaftliche Konzepte motiviert sind. Da aber Wissenschaft geradezu bestraft wird, werden Forschungsfragen danach ausgewählt, was sich am einfachsten und schnellsten veröffentlichen lässt. Und nach diesem Kriterium fallen echte Probleme automatisch weg, da diese üblicherweise sehr schwierig sind und damit ein großes Risiko beinhalten, nicht schnell oder „gut“ genug veröffentlicht werden zu können.

Was ist nun meine korrekte neue Berufsbezeichnung? Ich sehe mich ganz klar als „Scientist“. Wenn ich zum zweiten Mal das gleiche Problem zu lösen habe, fange ich an, die Aufgabe zu abstrahieren und ein allgemeines Modell zu entwickeln. Meine Kunden profitieren davon, indem wir Lösungen nicht von Null auf erarbeiten müssen und stattdessen grundlegende Mechanismen von früheren Projekten nutzen können. Forschung gehört damit zu meinen Aufgaben: ich recherchiere Techniken und verwandte Ansätze, ich erprobe Lösungsalternativen und evaluiere diese. Aber mein Anspruch ist die Verallgemeinerung und Abstraktion, nicht als kognitive Spielerei, sondern um darauf aufzubauen und in Zukunft komplexere Aufgaben bewältigen zu können. Im universitären Forschungssystem wurde mir dieser Anspruch an mich selbst immer negativ ausgelegt. Ich hoffe, dass ich nun meine Leidenschaft zur Wissenschaft im Kontext realer Probleme produktiv anwenden kann.

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